GewandhausMAGAZIN Nr. 34 Frühjahr 2002
Musikstadt heute Männer und Frauen, ungemischt: Serie über Leipzigs »Off-Szene«, 11. Lieferung: Der Frauenchor Leipzig-Süd und der Männerchor Leipzig-Nord Seiten 36 ff
Männer und Frauen, ungemischt
Frei nach Brecht wäre zu behaupten: Die einen sind im »On«, und die anderen träumen davon. Doch schwarzweiß ist die Welt nicht, auch wenn manche der gern sogenannte »Basis-« gegen sogenannte »Hoch-Kultur« ausspielt, es bedauern mag. Letztlich sucht jeder sein Publikum, seine Bühne und seine Anerkennung, einmal mit mehr, ein andermal mit weniger Erfolg. Elfte Lieferung unserer Serie über Leipzigs »Off-Szene«: Der Frauenchor Leipzig-Süd und der Männerchor Leipzig-Nord.
„Drei Dinge braucht es, um einen Männerchor zu gründen,“ wetzt der Volksmund alle 32 Zähne, „Freude am Trinken, das richtige Vereinslokal und einen Kumpel, der noch größeren Durst hat als Du.“ Der Ruf der Männerchöre ist ruiniert, spätestens seit vaterländisches, deutsch-nationale, Repertoire, Marschlieder in Moll, Jagd- und Soldatenromantik die männer-bündischen Liedertafeln beherrschten. Dabei hatte Carl Friedrich Zelters Liedertafel einen ganz anderen Zweck verfolgt, als sie am 24. Januar 1909 das erste Mal zusammenntraf. Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1908 schrieb Zelter an Goethe: „Zur Feier der Wiederkunft des Königs habe ich eine Liedertafel gestiftet: eine Gesellschaft von 25 Männern … versammelt sich monatlich einmal bei einem Abendmahle von zwei Gerichten und vergnügt sich an gefälligen deutschen Gesängen. Die Mitglieder müssen entweder Dichter, Sänger oder Komponisten sein. Wer ein neues Lied gedichtet oder komponiert hat, liest oder singt solches an der Tafel vor, oder lässt es singen. Hat es Beifall, so geht eine Büchse an der Tafel umher, worin (wenn ihm das Lied gefällt) nach seinem Gefallen einen Groschen oder mehr hinein tut … Jeder hat volle Freiheit, zu sein, wie er ist, wenn er nur liberal ist.“ Ziel dieses bildungsaristokratischen Klubs war es, neue Chorliteratur zu schaffen und das Beste davon unters Volk zu bringen. Später firmierten die Männergesangsvereine unter dem Begriff "Liedertafelei“, und das assoziierte Vereinsmeierei und ein robustes Mandat für Sauf- und Rauflieder. Nicht zuletzt Tucholsky fühlte sich zu einem Sportverschen in seiner „Anna-Luise“ angeregt: "Dein Papa ist kühn und Geometer. / Er hat zwei Kanarienvögelein; / Auf den Sonnabend aber geht er / Gern zum Pilsner in’n Gesangverein.“ Eine kleine nicht repräsentative Umfrage in Leipzig ergab: Vom „Anachronismus des 21 .Jahrhunderts“ reicht heute die Publikumsschelte für die singenden männlichen „Exoten“ bis zum herablassenden Kommentar eines 23- jährigen Zivildienstleistenden: "Etwas Trostloseres als einen deutschen Männerchor kann ich mir nicht vorstellen. Das sind bestimmt alles Reservisten, zackig, knapp, klar, Kameradschaft und Treue wird übers Singen gestellt.“ „Sie treten gehäuft zu Geburtstagen auf“. glaubt eine 52-iährig Pädagogin, "und singen zu ihrer persönlichen Erbauung ‚Das ist der Tag des Herrn’, bis jemand ihren Frauen zuruft: Nehmt sie doch endlich mit!“ Frauenchöre erscheinen der Öffentlichkeit anno 2002 in viel milderem Licht. Frauen und Chorgesang, das scheint die naturgemäßere Form des Singens, zu sein, mall vermutet nur Gutes und Schönes. Selbst die ihnen im Übrigen herzlich gegönnte Geselligkeit verbindet mit diesem Begriff eher Schnattern und Klappern von Stricknadeln als Gläserklirren und schlüpfrige Lieder. Aber reine Frauenchöre sind selten. Der Hörpsychologe Joachim-Ernst Behrendt hat herausgefunden, dass es für Frauen viel selbstverständlicher sei, mit Männern zu singen als umgekehrt. Ihre Stimmen lägen ja oben, hätten Leitfunktion. seien melodietragend und deckten mitunter die tieferen Männerstimmen zu. Frauen hätten danach weniger Berührungsängste vor gemischten Chören als Männer. Allen Vorurteilen, Theorien und Klischees zum Trotz ließen wir uns auf den Chorproben des Männerchores Leipzig-Nord und des Frauenchores Leipzig-Süd ruhig nieder. Und entdeckten sehr bald schon die erste entscheidende Gemeinsamkeit: Die Chorleiter - Ex-Kruzianer und Physikpädagoge Detlef Schneider vom Männerchor Leipzig-Nord e.V. und MDR-Chorsänger Helmut Werler vom Frauenchor Leipzig-Süd e.V. - sind beide durch dieselbe harte Schule gegangen: Sie sangen jahrelang im Leipziger Universitätschor. Von dort haben sie nicht nur die Tradition des .,WGH“ - Geburtstagsliedes (wir gratulieren herzlich) in ihre neuen Chöre mit übernommen. sondern auch das Ethos von anspruchsvollem Singen und musikalischem Feinschliff. Gleich zu Beginn heißt es: „Sie dürfen nicht empfindlich sein. Hier fällt auch mal ein Witz und ein derbes Wort!“ 25 zum Teil leicht ergraute Oberquintaner werfen sich und ihrem Pauker respektive Chorleiter: an diesem Donnerstagabend im Speisesaal des Schiller-Gymnasiums die Bälle zu und freuen sich wie Lausbuhen, wenn Töne und Worte gleichermaßen treffsicher landen. Ein Weihnachtsliederprogramm für den 22. Dezember 2001 im Medelssohn-Saal des Gewandhauses wird geprobt. "Bitte mal die Melodei der dritten Katastrophe.“ frotzelt Chorleiter Detlef Schneider, 62 um gleich danach noch eins drauf zu setzen: „Bitte ein sauberes, schönes fis-Moll. Das klingt ja so, als würde sich einer mit dem Hintern auf die Tastatur setzen'“ Ein Wort gibt das andere: „Bis zum 22. haben wir das drauf'“, wird er getröstet. „Früh oder Abend“-. pariert Schneider, und mahnt den Bass: „Kinder, Ihr seid immer noch nicht tief genug, obwohl Ihr gedrückt habt wie die Weltmeister. Aber das führt dann womöglich zu anderen Lauten …“ Die „Kinder" im Alter zwischen 27 und 73 kichern, lachen und stehen mit Freuden die zweieinhalbstündige Probe durch, Sie vertrauen ihrem langjährigem Chorleiter und seinem musikalischem Konzept. das darin besteht, mit anspruchsvoller Chorliteratur immer wieder ihre Grenzen zu erweitern. Ihr Repertoire reicht von Lidern der Renaissance über die Klassik und Romantik bis zu zeitgenössischem Liedgut und Liedern anderer Völker in der jeweiligen Landessprache. Seit Detlef Schneider 1975 die Chorleitung des Männerchores Leipzig-Nord übernahm, hat er zirka 40 Sänger durch Täler weit und auf Höhen geführt bis hin zu repräsentativen nationalen und internationalen Sängerfesten, etwa zum 19. Chorfest des Deuteschen Sängerbundes im Mai 1992 in Köln oder zum 1. Sächsische Chorwettbewerb 1993 in Dresden, um nur zwei von vielen zu nennen, bei denen sie stets mit gutem Erfolg abschnitten. Konzertreisen führten zu Partnerchören nach Hannover und Berlin, nach Ungarn, der Slowakei, der Ukraine, nach Villé im Elsass und als den absoluten Höhepunkt im Oktober 1994 nach Japan. Ein herzlicher Kontakt entstand zur Liedertafel Tokyo 1925 und zum Yokodai Männerchor Yokohama. Chormusik aus Japan wie das poetische Lied vom „Mond über der alten Ruine“ gehört seitdem zu ihrem Repertoire. Die singenden Männer – Anwälte, Chemiker, Beamte, Handwerker, Arbeitslose, Pensionäre – verstehen sich als musikalische Amateure im wahrsten Sinne des Wortes „amator“: Liebhaber. Auch die Bezeichnung Dilettanten (die sich vom italienischen „dilettare“, sich vergnügen, ableitet) stört sie nicht, empört sind sie allerdings über das landläufige Bild von Männerchören. „Wir sind anders“, lautet die vielstimmige Antwort, haben nichts gemein mit den Männerchören des 19. Jahrhunderts. „Wir haben in der Achtelpause keine Achtelliter unter dem Stuhl stehen“, bekräftigt der singende Musikwissenschaftler Thomas Schinköth, 38. „Die Proben werden nicht an Orten abgehalten, wo die Gesangsbücher Henkel haben. Werke, die den konventionellen Männerchorgesang allzu sehr frönen, werden in den Konzertprogrammen weitgehend ausgespart. Kritiker haben immer wieder die Fähigkeit unserer Sänger zu spannungsvollem Piano hervorgehoben und damit signalisiert, dass sich Stimmkraft nicht allein in machtvoller Lautstärke äußert.“ „Es sollte von Anfang an ein Männerchor sein“, weiß der 66-jährige Chemiker und Chorchronist Hans-Günter Hahn, seit 1971 dabei und damit der dienstälteste Sänger des Vereins. Er berichtet: Am 7. August 1953 gründeten acht Herren den Chor der Gesangssparte Leiptig-Möckern 117. Zunächst firmierte er unter den Namen „Sängerkreis Möckern“, später, in den Siebzigern, gaben sie sich den heutigen Namen. Dem Gründer und Chordirigenten Walhter Stumpf, der bis 1975 den Chor führte, wird bis heute hoch angerechnet, dass er von Anfang an mit seinen Mannen um einen guten Männerchorklang bei wertvoller Literatur gerungen hat. „Ich habe in den Siebzigern ab uns zu im Chor mitgesungen. Walther Stumpf auch mal bei einem Auftritt als Dirigent vertreten. Schließlich bat er mich, den Chor zu übernehmen“, erzählte Detlef Schneider. Und mit Hochachtung: „Ich könne ihm möglicherweise mehr beibringen als er. Sagte es und sang als einfaches Chormitglied weiter. Ihm ging es um die Sache, und er hat mit diesem Schritt eine menschliche Größe offenbart, wie sie heutzutage selten ist.“ Jährlich fünfzehn Auftritte bestreitet der Chor. Schwerpunkte sind das Weihnachts- und das Frühlingskonzert im kleinen Gewandhaussaal mit Volksund Frühlingsliedern, die Benefizkonzerte in der Gohliser Versöhungskirche. Veranstaltungen im Gohliser Schlößchen, im Völkerschlachtdenkmal oder am Gustav-Adolf-Denkmal in Breitenfeld. Hier freilich schmettern sie auch mal wieder „Lützows wilde, verwegene Jagt“. Zum Vereinsleben gehört eine gepflegte Geselligkeit. Es gibt ein Stammlokal, die Gaststätte des Gartenvereins Seilbahn in der Max-Liebermann-Straße, man fährt ins Chorschulungslager oder zum Chorwochenende, und die Gattinnen treffen sich monatlich einmal zum Kränzchen, pardon: Damenstammtisch. Das alles will organisiert sein. Dr. Konrad Klemm, 64, pensionierter Pädagoge und ehemaliger Leistungssportler, hat als Vorstandsvorsitzender die organisatorischen Zügel fest im Griff. Schon jetzt plant er zusammen mit Detlef Schneider und dem Chorvorstand das 50-jährige Jubiläum des Männerchores im nächsten Jahr. Im Juni 2003, soviel sei verraten, Wird ein Festkonzert mit Ausschnitten einer Renaissance-Messe und modernen Volksliedbearbeitungen stattfinden. Zum Chorleben gehört auch, dass man sich untereinander kümmert, den Erkrankten besucht und den Sorgevollen tröstet, einander in finanziellen Notsituationen hilft. Ihren Leitspruch nehmen die Chormitglieder deshalb wörtlich: „In frohen wie in ernsten Stunden sind wir vereint in Freud und Leid. In Treue fest sind wir verbunden, so soll es bleiben alle Zeit!“ „Der Chor hat mein Leben bereichert“, resümiert der mit 73 Jahren älteste Chorsänger Siegfried Arnd, der seit 1986 als Bassist dabei ist. „wir müssen sehr hart arbeiten, aber wenn ein Auftritt geklappt hat, dann ist man ein glücklicher Mensch.“ Der jüngste Sänger Marco Hübner, 27 und der Schatzmeister Paul Kumpfe, 34, die beide kräftig zur Minderung des Altersdurchschnittes beitragen, fangen dagegen erst an, so richtig heimisch zu werden. „Mein erster Auftritt im Frühjahr 1998 im Gewandhaus war total schlimm“, erinnert sich Banker Hübner. „Ich wollte nicht auf die Bühne, war kreidebleich, dachte, das schaffst du nie; wenn die Leute hören, dass du falsch singst, wie peinlich; aber nach dem Konzert ging es mir unwahrscheinlich gut.“ Die öffentlichen Auftritte sind eine enorme Motivation für die Männer. „Ich hatte mir früher mal vorgestellt, dass wir ein ganzes Jahr ohne ein Auftritt proben können, um den Zwang rauszunehmen, aber das hat sich als Illusion herausgestellt.“, sagt Detlef Schneider. „Es muss dieses Ziel geben, damit die Leute dranbleiben.“ Aber Schneider ist manchmal auch sehr streng mit seiner „Bande“. So macht noch heute die Anekdote die Runde, dass er einmal vor einem Konzert zwei Sänger ausgeschlossen hat, einer davon ein promovierter ehemaliger Thomaner, weil sie sich ein Bierchen genehmigt hatten. Ein Qualitätsmerkmal des Chores: Sie singen dynamischer als andere, klingen frisch, lebhaft, entspannt. Zügige Tempi ohne Pathos und Tränensehligkeit. „Nicht Ihr sollt von Eurem Gesang gerührt sein, sondern die Zuhörer“, trichtert Schneider ihnen ein, und erläutert: Wir bemühen uns um eine gute Dynamik in dem Sinne, dass ein Forte nicht geschrien wird und ein Pianissimo noch klingt. Das sind zwei starke Forderungen, aber von den gehe ich nicht ab.“ Der Chorteufel will es, dass zum Ende der Probe ein „WGH“ ansteht: Sangesfreund Möseritz, 73, hat Geburtstag und wünscht sich, ja was schon, sie singen es ja sonst nicht: „Die Rose von Burgund“. „Du bist ein Fall für Gotthilf Fischer“ frotzeln die anderen, ehe sie mit Augenzwinkern zu singen anheben, und der Einsatz klappt bestens.
Im Frauenchor Leipzig-Süd heißt der Außenposten für den guten Geschmack „Wahre Freundschaft soll nicht wahanken …“ Ein Lied, das beim „WGH“ gottlob wenig verlangt wird. Hier geraten die Sängerinnen mit unter in Verlegenheit aus anderen Gründen, etwa wenn eine Sangesfreundin sich ein solange nicht eingeübtes anspruchsvolles Lied wünscht, Brechts „7 Rosen hat der Strauch“ in der Vertonung von Paus Dessau oder das „Averum“ von Mozart. Jeden Montag von 18.45 bis 20.15 Uhr in der Begegnungsstätte der Volkssolidarität in der Bornaischen Straße. Helmut Werler, 52, hat seine Liebe Not, „die nötige söttliche Reife“ bei seinen Damen einzufordern, damit das Einsingen gut über die Bühne geht. „Nein, nein, spacha, pui, pui, pui, pui“ heißen die Chorlaute, aber man hat sich schließlich eine Woche lang nicht gesehen, da gibt es einiges andere zu ratschen. Werlers Sanktionsmöglichkeiten sind gering. Mehrmals ermahnt er: „Das Einsingen ist eine Ernste Sache. Und ich find, die artet jetzt aus!“ Zirka 20 Frauen, die meisten im Rentenalter, wundern sich: „Ohren hat der!“, sagt eine und Helmut Werler pariert: „Dafür bekomme ich mein Geld. Oder wollt ihr einen tauben Chorleiter?“ Schließlich packt er die Frauen bei ihrer Ehre, denn der Dezember platzt mit Auftrittsterminen aus den Nähten. „Gloria in excelsius Deo“ – bis zum Adventssingen sächsischer Chöre im Gewandhaus muss das sitzen, und auch das älteste überlieferte Weihnachtslied aus dem 12. Jahrhundert „Sei willekommen, Herre Christ“ bedarf noch einiger Übung. „Bitte mal einen kleinen Blickwinkel nach vorn riskieren“, fleht er den Sopran an. Die Frauen haben gerade ein Probenwochenende in der Jugendherberge Buchheim bei Bad Lausig hinter sich und ihre Stimmen flackern. Tage später, im Gewandhausfoyer, jubeln sie, und ihr Chorleiter schaut drein, als habe sich die Mühe doch gelohnt. „Unser Ziel ist es, ein möglichst vielseitiges und interessantes Repertoire mehrstimmig einzustudieren und das möglichst gut zu singen“, bringt Helmut Werler sein Konzept auf einen einfachen Nenner. Seit 1981 ist er der künstlerische Leiter des Frauenchores. Dessen Stärken sind Volkslieder des 19. Jahrhunderts, leichte Sätze aus der Romantik – Mendelssohn, Schubert, Schumann - , zeitgenössische Chorliteratur von Paul Hindemith, Béla Bartók und Paul Dessau. Bisherige Höhepunkt der Chorarbeit war der „Musikalische Spaziergang durch das zweite Jahrtausend“. „Frauenchöre haben das Problem, dass die Dichter der Liedtexte fast alles Männer waren“, sinniert der Chorleiter. „Das ist bei einem Naturlied nicht weiter aufregend, aber spätestens bei einem Liebeslied fällt das ins Gewicht. Deshalb suchten wir nach Texten von Dichterinnen und nach Komponisten, die diese vertonten. Zu unserem Liedgut gehören jetzt Lieder von Hildegard von Bingen, die nur für Frauen komponiert hat, aber auch fünf sehr poetische Gedichte von Eva Strittmatter, die Horst Dieter Knorm vertont hat. Auch der Komponist Friedbert Groß hat 1986 ein Werk eigens für den Chor komponiert.“ Warum sie ein Frauenchor sind und bleiben wollen, dafür holt der Chorleiter weiter aus: „Der Chor wurde am 19. Oktober 1979 als gemischter Chor von Volkmar Genterczewsky gegründet, anderthalb Jahre später habe ich ihn übernommen. Damals hießen wir Stadtbezirkschor Süd. Es gab jede Menge gemischter Chöre, die ‚anderthalb Männer’ hatten. Sobald da einer bei den Proben fehlte, fiel gleich eine ganze Stimmgruppe aus. Das wollten wir nicht und deshalb entschieden wir uns für einen reinen Frauenchor. Die Ausdrucksskala eines Frauenchores ist größer, als man gemeinhin glaubt. So gar größer als die eines Männerchores. Ich war mal Leiter eines Männerchores uns weiß, wovon ich rede: Die Naturlyrik des 19. Jahrhunderts, die geselligen Lieder, das klappt im Männerchor wunderbar, aber es macht unwahrscheinlich Mühe mit denen ‚Insbruck, ich muß dich lassen’ einzustudieren. Ausnahmen bestätigen die Regel. Der Männerchor Leipzig-Nord ist so eine Ausnahme.“ Die Sängerinnen sind Angestellte, Kindergärtnerin, Musiklehrerin, Übersetzerin, Rentnerin … Stewardes Karin Gilbert, 28, ist die jüngste im Chor. Trotz knapper Freizeit möchte sie die Probenmontage, die Auftritte im Gewandhaus, in der Klosterruine Memleben, in der Kirche zu Schkeitbar oder im Seniorenheim genauso wenig wie das gesellige Chorleben mit Ständchen, Weihnachtsfeier, Rosenmontag oder Sommerfest missen. Die 56-järige Sozialpädagogin Petra Geißler hatte anfangs Sorgen, das ihr die fehlenden Notenkenntnisse zum Verhängnis werden. Das Training mit Helmut Werler und die freundliche Aufnahme in ihrer Stimmgruppe Alt stärkten bald ihr Selbstvertrauen. „Singen hat was mit mir zu tun,“ sagt sie, „es ist etwas Körperliches, ein unverwechselbarer Ausdruck meiner selbst. Hinzu kommt, in der Gemeinschaft zu sein, sich an Regeln zu halten, aber auch die Freiheit, heute nicht zu sagen und trotzdem wieder willkommen zu sein, das ist sehr verlockend.“ Für Annerose Schroeter, 52, war die Hauptmotivation, ihr Liederrepertoire aufzufrischen. „Es ist eine schöne Freizeitbeschäftigung, die man ohne große Voraussetzung und auch als älter Werdende betreiben kann. Gleich danach aber kommt die Geselligkeit. Alt und Jung verstehen sich bestens. Ich freue mich auf jeden Probenmontag“, sagt die noch hart im Berufsleben stehende Leiterin einer Kindereinrichtung. „Ewig geprobt haben wir an dem „Verleih uns Frieden gnädiglich“ von Balthasar Resinarius“, gesteht die 66-jährige Notenwartin Gertraude Mursky. „Das war eine Nummer zu groß.“ In den zwanzig Jahren hat Helmut Werler sein Sängerinnen verwöhnt. Nicht nur die künstlerischen Dinge, auch das Organisatorische bleibt trotz Chorvorstandes oft an ihm hängen. Spaß macht es ihm dennoch, und er hat viele Ideen für Künftiges: „Lieder in Mundart zu singen war mal unser Markenzeichen. Das würde ich gern wieder aufleben lassen. Nicht, um einer Heimatgruppe Konkurrenz zu machen, sondern niederdeutsches Liedgut soll neben kernsächsischem und erzgebirgischem unsere Programme bereichern. Ein Männerstammtisch wäre auch nicht verkehrt,“ sinniert er, „es gibt immer noch Ehemänner, die auf den Chor eifersüchtig sind.“ Ob Chorgesang aber heute überhaupt noch zeitgemäß ist, da ist sich der Berufssänger gar nicht mal so sicher. Aber eines weiß er genau: Wer mit dem Chorsingen einmal angefangen hat, möchte es ein Leben lang nicht mehr missen. Der Frauenchor Süd wünscht sich wieder mal einen gemeinsamen Auftritt mit dem Männerchor Leipzig-Nord. Über den alten Witz „Männerchor Nord singt mit Frauenchor Süd, bald wird Kinderchor Mitte kommen“ lacht niemand mehr. Der Altersdurchschnitt beträgt im Männerchor 44 Jahre und im Frauenchor 60. Nachwuchssorgen quälen beide. Junge Leute interessieren sich eher für gemischte Chöre.
Jutta Donat [Jutta Donat, Jahrgang 1952, Studium der Journalistik und Literatur in Leipzig, freie Autorin, Beiträge unter anderem für die Leipziger Volkszeitung und die Frankfurter Rundschau]
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