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30.05.11 LVZ 12.Glesiener Chorfrühling | 27.06.12 Rundschau Lindensaal Markkleeberg  

2002 Gewandhausmagazin

GewandhausMAGAZIN
Nr. 34 Frühjahr 2002

Musikstadt heute
Männer und Frauen, ungemischt:
Serie über Leipzigs »Off-Szene«, 11. Lieferung:
Der Frauenchor Leipzig-Süd und der Männerchor Leipzig-Nord
Seiten 36 ff

Männer und Frauen,
ungemischt

Frei nach Brecht wäre zu behaupten: Die einen
sind im »On«, und die anderen träumen davon.
Doch schwarzweiß ist die Welt nicht, auch wenn
manche der gern sogenannte »Basis-« gegen
sogenannte »Hoch-Kultur« ausspielt, es bedauern
mag. Letztlich sucht jeder sein Publikum, seine
Bühne und seine Anerkennung, einmal mit mehr,
ein andermal mit weniger Erfolg.
Elfte Lieferung unserer Serie über Leipzigs
»Off-Szene«: Der Frauenchor Leipzig-Süd und der
Männerchor Leipzig-Nord.

„Drei Dinge braucht es, um einen Männerchor zu gründen,“ wetzt der
Volksmund alle 32 Zähne, „Freude am Trinken, das richtige Vereinslokal und
einen Kumpel, der noch größeren Durst hat als Du.“ Der Ruf der Männerchöre
ist ruiniert, spätestens seit vaterländisches, deutsch-nationale, Repertoire,
Marschlieder in Moll, Jagd- und Soldatenromantik die männer-bündischen
Liedertafeln beherrschten. Dabei hatte Carl Friedrich Zelters Liedertafel einen
ganz anderen Zweck verfolgt, als sie am 24. Januar 1909 das erste Mal
zusammenntraf. Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1908 schrieb Zelter
an Goethe: „Zur Feier der Wiederkunft des Königs habe ich eine Liedertafel
gestiftet: eine Gesellschaft von 25 Männern … versammelt sich monatlich
einmal bei einem Abendmahle von zwei Gerichten und vergnügt sich an
gefälligen deutschen Gesängen. Die Mitglieder müssen entweder Dichter,
Sänger oder Komponisten sein. Wer ein neues Lied gedichtet oder komponiert
hat, liest oder singt solches an der Tafel vor, oder lässt es singen. Hat es Beifall,
so geht eine Büchse an der Tafel umher, worin (wenn ihm das Lied gefällt) nach
seinem Gefallen einen Groschen oder mehr hinein tut … Jeder hat volle Freiheit,
zu sein, wie er ist, wenn er nur liberal ist.“ Ziel dieses bildungsaristokratischen
Klubs war es, neue Chorliteratur zu schaffen und das Beste davon unters Volk
zu bringen.
Später firmierten die Männergesangsvereine unter dem Begriff "Liedertafelei“,
und das assoziierte Vereinsmeierei und ein robustes Mandat für Sauf- und
Rauflieder. Nicht zuletzt Tucholsky fühlte sich zu einem Sportverschen in seiner
„Anna-Luise“ angeregt: "Dein Papa ist kühn und Geometer. / Er hat zwei
Kanarienvögelein; / Auf den Sonnabend aber geht er / Gern zum Pilsner in’n
Gesangverein.“
Eine kleine nicht repräsentative Umfrage in Leipzig ergab: Vom
„Anachronismus des 21 .Jahrhunderts“ reicht heute die Publikumsschelte für die
singenden männlichen „Exoten“ bis zum herablassenden Kommentar eines 23-
jährigen Zivildienstleistenden: "Etwas Trostloseres als einen deutschen
Männerchor kann ich mir nicht vorstellen. Das sind bestimmt alles Reservisten,
zackig, knapp, klar, Kameradschaft und Treue wird übers Singen gestellt.“ „Sie
treten gehäuft zu Geburtstagen auf“. glaubt eine 52-iährig Pädagogin, "und
singen zu ihrer persönlichen Erbauung ‚Das ist der Tag des Herrn’, bis jemand
ihren Frauen zuruft: Nehmt sie doch endlich mit!“
Frauenchöre erscheinen der Öffentlichkeit anno 2002 in viel milderem Licht.
Frauen und Chorgesang, das scheint die naturgemäßere Form des Singens, zu
sein, mall vermutet nur Gutes und Schönes. Selbst die ihnen im Übrigen herzlich
gegönnte Geselligkeit verbindet mit diesem Begriff eher Schnattern und
Klappern von Stricknadeln als Gläserklirren und schlüpfrige Lieder. Aber reine
Frauenchöre sind selten. Der Hörpsychologe Joachim-Ernst Behrendt hat
herausgefunden, dass es für Frauen viel selbstverständlicher sei, mit Männern zu
singen als umgekehrt. Ihre Stimmen lägen ja oben, hätten Leitfunktion. seien
melodietragend und deckten mitunter die tieferen Männerstimmen zu. Frauen
hätten danach weniger Berührungsängste vor gemischten Chören als Männer.
Allen Vorurteilen, Theorien und Klischees zum Trotz ließen wir uns auf den
Chorproben des Männerchores Leipzig-Nord und des Frauenchores Leipzig-Süd
ruhig nieder. Und entdeckten sehr bald schon die erste entscheidende
Gemeinsamkeit: Die Chorleiter - Ex-Kruzianer und Physikpädagoge Detlef
Schneider vom Männerchor Leipzig-Nord e.V. und MDR-Chorsänger Helmut
Werler vom Frauenchor Leipzig-Süd e.V. - sind beide durch dieselbe harte
Schule gegangen: Sie sangen jahrelang im Leipziger Universitätschor. Von dort
haben sie nicht nur die Tradition des .,WGH“ - Geburtstagsliedes (wir gratulieren
herzlich) in ihre neuen Chöre mit übernommen. sondern auch das Ethos
von anspruchsvollem Singen und musikalischem Feinschliff.
Gleich zu Beginn heißt es: „Sie dürfen nicht empfindlich sein. Hier fällt auch
mal ein Witz und ein derbes Wort!“ 25 zum Teil leicht ergraute Oberquintaner
werfen sich und ihrem Pauker respektive Chorleiter: an diesem Donnerstagabend
im Speisesaal des Schiller-Gymnasiums die Bälle zu und freuen sich wie
Lausbuhen, wenn Töne und Worte gleichermaßen treffsicher landen. Ein
Weihnachtsliederprogramm für den 22. Dezember 2001 im Medelssohn-Saal
des Gewandhauses wird geprobt. "Bitte mal die Melodei der dritten
Katastrophe.“ frotzelt Chorleiter Detlef Schneider, 62 um gleich danach noch
eins drauf zu setzen: „Bitte ein sauberes, schönes fis-Moll. Das klingt ja so, als
würde sich einer mit dem Hintern auf die Tastatur setzen'“ Ein Wort gibt das
andere: „Bis zum 22. haben wir das drauf'“, wird er getröstet. „Früh oder
Abend“-. pariert Schneider, und mahnt den Bass: „Kinder, Ihr seid immer noch
nicht tief genug, obwohl Ihr gedrückt habt wie die Weltmeister. Aber das führt
dann womöglich zu anderen Lauten …“
Die „Kinder" im Alter zwischen 27 und 73 kichern, lachen und stehen mit
Freuden die zweieinhalbstündige Probe durch, Sie vertrauen ihrem langjährigem
Chorleiter und seinem musikalischem Konzept. das darin besteht, mit
anspruchsvoller Chorliteratur immer wieder ihre Grenzen zu erweitern. Ihr
Repertoire reicht von Lidern der Renaissance über die Klassik und Romantik bis
zu zeitgenössischem Liedgut und Liedern anderer Völker in der jeweiligen
Landessprache.
Seit Detlef Schneider 1975 die Chorleitung des Männerchores Leipzig-Nord
übernahm, hat er zirka 40 Sänger durch Täler weit und auf Höhen geführt bis
hin zu repräsentativen nationalen und internationalen Sängerfesten, etwa zum 19.
Chorfest des Deuteschen Sängerbundes im Mai 1992 in Köln oder zum 1.
Sächsische Chorwettbewerb 1993 in Dresden, um nur zwei von vielen zu
nennen, bei denen sie stets mit gutem Erfolg abschnitten. Konzertreisen führten
zu Partnerchören nach Hannover und Berlin, nach Ungarn, der Slowakei, der
Ukraine, nach Villé im Elsass und als den absoluten Höhepunkt im Oktober
1994 nach Japan. Ein herzlicher Kontakt entstand zur Liedertafel Tokyo 1925
und zum Yokodai Männerchor Yokohama. Chormusik aus Japan wie das
poetische Lied vom „Mond über der alten Ruine“ gehört seitdem zu ihrem
Repertoire.
Die singenden Männer – Anwälte, Chemiker, Beamte, Handwerker, Arbeitslose,
Pensionäre – verstehen sich als musikalische Amateure im wahrsten Sinne
des Wortes „amator“: Liebhaber. Auch die Bezeichnung Dilettanten (die sich
vom italienischen „dilettare“, sich vergnügen, ableitet) stört sie nicht, empört
sind sie allerdings über das landläufige Bild von Männerchören. „Wir sind
anders“, lautet die vielstimmige Antwort, haben nichts gemein mit den
Männerchören des 19. Jahrhunderts. „Wir haben in der Achtelpause keine
Achtelliter unter dem Stuhl stehen“, bekräftigt der singende
Musikwissenschaftler Thomas Schinköth, 38. „Die Proben werden nicht an
Orten abgehalten, wo die Gesangsbücher Henkel haben. Werke, die den
konventionellen Männerchorgesang allzu sehr frönen, werden in den
Konzertprogrammen weitgehend ausgespart. Kritiker haben immer wieder die
Fähigkeit unserer Sänger zu spannungsvollem Piano hervorgehoben und damit
signalisiert, dass sich Stimmkraft nicht allein in machtvoller Lautstärke äußert.“
„Es sollte von Anfang an ein Männerchor sein“, weiß der 66-jährige Chemiker
und Chorchronist Hans-Günter Hahn, seit 1971 dabei und damit der dienstälteste
Sänger des Vereins. Er berichtet: Am 7. August 1953 gründeten acht Herren den
Chor der Gesangssparte Leiptig-Möckern 117. Zunächst firmierte er unter den
Namen „Sängerkreis Möckern“, später, in den Siebzigern, gaben sie sich den
heutigen Namen.
Dem Gründer und Chordirigenten Walhter Stumpf, der bis 1975 den Chor führte,
wird bis heute hoch angerechnet, dass er von Anfang an mit seinen Mannen um
einen guten Männerchorklang bei wertvoller Literatur gerungen hat. „Ich habe
in den Siebzigern ab uns zu im Chor mitgesungen. Walther Stumpf auch mal bei
einem Auftritt als Dirigent vertreten. Schließlich bat er mich, den Chor zu
übernehmen“, erzählte Detlef Schneider. Und mit Hochachtung: „Ich könne ihm
möglicherweise mehr beibringen als er. Sagte es und sang als einfaches
Chormitglied weiter. Ihm ging es um die Sache, und er hat mit diesem Schritt
eine menschliche Größe offenbart, wie sie heutzutage selten ist.“
Jährlich fünfzehn Auftritte bestreitet der Chor. Schwerpunkte sind das
Weihnachts- und das Frühlingskonzert im kleinen Gewandhaussaal mit Volksund
Frühlingsliedern, die Benefizkonzerte in der Gohliser Versöhungskirche.
Veranstaltungen im Gohliser Schlößchen, im Völkerschlachtdenkmal oder am
Gustav-Adolf-Denkmal in Breitenfeld. Hier freilich schmettern sie auch mal
wieder „Lützows wilde, verwegene Jagt“.
Zum Vereinsleben gehört eine gepflegte Geselligkeit. Es gibt ein Stammlokal,
die Gaststätte des Gartenvereins Seilbahn in der Max-Liebermann-Straße, man
fährt ins Chorschulungslager oder zum Chorwochenende, und die Gattinnen
treffen sich monatlich einmal zum Kränzchen, pardon: Damenstammtisch. Das
alles will organisiert sein. Dr. Konrad Klemm, 64, pensionierter Pädagoge und
ehemaliger Leistungssportler, hat als Vorstandsvorsitzender die organisatorischen
Zügel fest im Griff. Schon jetzt plant er zusammen mit Detlef
Schneider und dem Chorvorstand das 50-jährige Jubiläum des Männerchores im
nächsten Jahr. Im Juni 2003, soviel sei verraten, Wird ein Festkonzert mit
Ausschnitten einer Renaissance-Messe und modernen Volksliedbearbeitungen
stattfinden.
Zum Chorleben gehört auch, dass man sich untereinander kümmert, den
Erkrankten besucht und den Sorgevollen tröstet, einander in finanziellen
Notsituationen hilft. Ihren Leitspruch nehmen die Chormitglieder deshalb
wörtlich: „In frohen wie in ernsten Stunden sind wir vereint in Freud und Leid.
In Treue fest sind wir verbunden, so soll es bleiben alle Zeit!“
„Der Chor hat mein Leben bereichert“, resümiert der mit 73 Jahren älteste
Chorsänger Siegfried Arnd, der seit 1986 als Bassist dabei ist. „wir müssen sehr
hart arbeiten, aber wenn ein Auftritt geklappt hat, dann ist man ein glücklicher
Mensch.“
Der jüngste Sänger Marco Hübner, 27 und der Schatzmeister Paul Kumpfe, 34,
die beide kräftig zur Minderung des Altersdurchschnittes beitragen, fangen
dagegen erst an, so richtig heimisch zu werden. „Mein erster Auftritt im
Frühjahr 1998 im Gewandhaus war total schlimm“, erinnert sich Banker Hübner.
„Ich wollte nicht auf die Bühne, war kreidebleich, dachte, das schaffst du nie;
wenn die Leute hören, dass du falsch singst, wie peinlich; aber nach dem
Konzert ging es mir unwahrscheinlich gut.“
Die öffentlichen Auftritte sind eine enorme Motivation für die Männer. „Ich
hatte mir früher mal vorgestellt, dass wir ein ganzes Jahr ohne ein Auftritt
proben können, um den Zwang rauszunehmen, aber das hat sich als Illusion
herausgestellt.“, sagt Detlef Schneider. „Es muss dieses Ziel geben, damit die
Leute dranbleiben.“
Aber Schneider ist manchmal auch sehr streng mit seiner „Bande“. So macht
noch heute die Anekdote die Runde, dass er einmal vor einem Konzert zwei
Sänger ausgeschlossen hat, einer davon ein promovierter ehemaliger Thomaner,
weil sie sich ein Bierchen genehmigt hatten.
Ein Qualitätsmerkmal des Chores: Sie singen dynamischer als andere, klingen
frisch, lebhaft, entspannt. Zügige Tempi ohne Pathos und Tränensehligkeit.
„Nicht Ihr sollt von Eurem Gesang gerührt sein, sondern die Zuhörer“, trichtert
Schneider ihnen ein, und erläutert: Wir bemühen uns um eine gute Dynamik in
dem Sinne, dass ein Forte nicht geschrien wird und ein Pianissimo noch klingt.
Das sind zwei starke Forderungen, aber von den gehe ich nicht ab.“
Der Chorteufel will es, dass zum Ende der Probe ein „WGH“ ansteht:
Sangesfreund Möseritz, 73, hat Geburtstag und wünscht sich, ja was schon, sie
singen es ja sonst nicht: „Die Rose von Burgund“. „Du bist ein Fall für Gotthilf
Fischer“ frotzeln die anderen, ehe sie mit Augenzwinkern zu singen anheben,
und der Einsatz klappt bestens.

Im Frauenchor Leipzig-Süd heißt der Außenposten für den guten Geschmack
„Wahre Freundschaft soll nicht wahanken …“ Ein Lied, das beim
„WGH“ gottlob wenig verlangt wird. Hier geraten die Sängerinnen mit unter in
Verlegenheit aus anderen Gründen, etwa wenn eine Sangesfreundin sich ein
solange nicht eingeübtes anspruchsvolles Lied wünscht, Brechts „7 Rosen hat
der Strauch“ in der Vertonung von Paus Dessau oder das „Averum“ von Mozart.
Jeden Montag von 18.45 bis 20.15 Uhr in der Begegnungsstätte der
Volkssolidarität in der Bornaischen Straße. Helmut Werler, 52, hat seine Liebe
Not, „die nötige söttliche Reife“ bei seinen Damen einzufordern, damit das
Einsingen gut über die Bühne geht. „Nein, nein, spacha, pui, pui, pui,
pui“ heißen die Chorlaute, aber man hat sich schließlich eine Woche lang nicht
gesehen, da gibt es einiges andere zu ratschen. Werlers Sanktionsmöglichkeiten
sind gering. Mehrmals ermahnt er: „Das Einsingen ist eine Ernste Sache. Und
ich find, die artet jetzt aus!“ Zirka 20 Frauen, die meisten im Rentenalter,
wundern sich: „Ohren hat der!“, sagt eine und Helmut Werler pariert: „Dafür
bekomme ich mein Geld. Oder wollt ihr einen tauben Chorleiter?“ Schließlich
packt er die Frauen bei ihrer Ehre, denn der Dezember platzt mit
Auftrittsterminen aus den Nähten. „Gloria in excelsius Deo“ – bis zum
Adventssingen sächsischer Chöre im Gewandhaus muss das sitzen, und auch das
älteste überlieferte Weihnachtslied aus dem 12. Jahrhundert „Sei willekommen,
Herre Christ“ bedarf noch einiger Übung. „Bitte mal einen kleinen Blickwinkel
nach vorn riskieren“, fleht er den Sopran an. Die Frauen haben gerade ein
Probenwochenende in der Jugendherberge Buchheim bei Bad Lausig hinter sich
und ihre Stimmen flackern. Tage später, im Gewandhausfoyer, jubeln sie, und
ihr Chorleiter schaut drein, als habe sich die Mühe doch gelohnt.
„Unser Ziel ist es, ein möglichst vielseitiges und interessantes Repertoire
mehrstimmig einzustudieren und das möglichst gut zu singen“, bringt Helmut
Werler sein Konzept auf einen einfachen Nenner. Seit 1981 ist er der
künstlerische Leiter des Frauenchores. Dessen Stärken sind Volkslieder des 19.
Jahrhunderts, leichte Sätze aus der Romantik – Mendelssohn, Schubert,
Schumann - , zeitgenössische Chorliteratur von Paul Hindemith, Béla Bartók
und Paul Dessau. Bisherige Höhepunkt der Chorarbeit war der „Musikalische
Spaziergang durch das zweite Jahrtausend“. „Frauenchöre haben das Problem,
dass die Dichter der Liedtexte fast alles Männer waren“, sinniert der Chorleiter.
„Das ist bei einem Naturlied nicht weiter aufregend, aber spätestens bei einem
Liebeslied fällt das ins Gewicht. Deshalb suchten wir nach Texten von
Dichterinnen und nach Komponisten, die diese vertonten. Zu unserem Liedgut
gehören jetzt Lieder von Hildegard von Bingen, die nur für Frauen komponiert
hat, aber auch fünf sehr poetische Gedichte von Eva Strittmatter, die Horst
Dieter Knorm vertont hat. Auch der Komponist Friedbert Groß hat 1986 ein
Werk eigens für den Chor komponiert.“
Warum sie ein Frauenchor sind und bleiben wollen, dafür holt der Chorleiter
weiter aus: „Der Chor wurde am 19. Oktober 1979 als gemischter Chor von
Volkmar Genterczewsky gegründet, anderthalb Jahre später habe ich ihn übernommen.
Damals hießen wir Stadtbezirkschor Süd. Es gab jede Menge
gemischter Chöre, die ‚anderthalb Männer’ hatten. Sobald da einer bei den
Proben fehlte, fiel gleich eine ganze Stimmgruppe aus. Das wollten wir nicht
und deshalb entschieden wir uns für einen reinen Frauenchor. Die
Ausdrucksskala eines Frauenchores ist größer, als man gemeinhin glaubt. So gar
größer als die eines Männerchores. Ich war mal Leiter eines Männerchores uns
weiß, wovon ich rede: Die Naturlyrik des 19. Jahrhunderts, die geselligen Lieder,
das klappt im Männerchor wunderbar, aber es macht unwahrscheinlich Mühe
mit denen ‚Insbruck, ich muß dich lassen’ einzustudieren. Ausnahmen bestätigen
die Regel. Der Männerchor Leipzig-Nord ist so eine Ausnahme.“
Die Sängerinnen sind Angestellte, Kindergärtnerin, Musiklehrerin, Übersetzerin,
Rentnerin … Stewardes Karin Gilbert, 28, ist die jüngste im Chor.
Trotz knapper Freizeit möchte sie die Probenmontage, die Auftritte im
Gewandhaus, in der Klosterruine Memleben, in der Kirche zu Schkeitbar oder
im Seniorenheim genauso wenig wie das gesellige Chorleben mit Ständchen,
Weihnachtsfeier, Rosenmontag oder Sommerfest missen. Die 56-järige
Sozialpädagogin Petra Geißler hatte anfangs Sorgen, das ihr die fehlenden
Notenkenntnisse zum Verhängnis werden. Das Training mit Helmut Werler und
die freundliche Aufnahme in ihrer Stimmgruppe Alt stärkten bald ihr
Selbstvertrauen. „Singen hat was mit mir zu tun,“ sagt sie, „es ist etwas
Körperliches, ein unverwechselbarer Ausdruck meiner selbst. Hinzu kommt, in
der Gemeinschaft zu sein, sich an Regeln zu halten, aber auch die Freiheit, heute
nicht zu sagen und trotzdem wieder willkommen zu sein, das ist sehr
verlockend.“
Für Annerose Schroeter, 52, war die Hauptmotivation, ihr Liederrepertoire
aufzufrischen. „Es ist eine schöne Freizeitbeschäftigung, die man ohne große
Voraussetzung und auch als älter Werdende betreiben kann. Gleich danach aber
kommt die Geselligkeit. Alt und Jung verstehen sich bestens. Ich freue mich auf
jeden Probenmontag“, sagt die noch hart im Berufsleben stehende Leiterin einer
Kindereinrichtung.
„Ewig geprobt haben wir an dem „Verleih uns Frieden gnädiglich“ von
Balthasar Resinarius“, gesteht die 66-jährige Notenwartin Gertraude Mursky.
„Das war eine Nummer zu groß.“
In den zwanzig Jahren hat Helmut Werler sein Sängerinnen verwöhnt. Nicht nur
die künstlerischen Dinge, auch das Organisatorische bleibt trotz Chorvorstandes
oft an ihm hängen. Spaß macht es ihm dennoch, und er hat viele Ideen für
Künftiges: „Lieder in Mundart zu singen war mal unser Markenzeichen. Das
würde ich gern wieder aufleben lassen. Nicht, um einer Heimatgruppe
Konkurrenz zu machen, sondern niederdeutsches Liedgut soll neben
kernsächsischem und erzgebirgischem unsere Programme bereichern. Ein
Männerstammtisch wäre auch nicht verkehrt,“ sinniert er, „es gibt immer noch
Ehemänner, die auf den Chor eifersüchtig sind.“
Ob Chorgesang aber heute überhaupt noch zeitgemäß ist, da ist sich der Berufssänger
gar nicht mal so sicher. Aber eines weiß er genau: Wer mit dem
Chorsingen einmal angefangen hat, möchte es ein Leben lang nicht mehr missen.
Der Frauenchor Süd wünscht sich wieder mal einen gemeinsamen Auftritt mit
dem Männerchor Leipzig-Nord. Über den alten Witz „Männerchor Nord singt
mit Frauenchor Süd, bald wird Kinderchor Mitte kommen“ lacht niemand mehr.
Der Altersdurchschnitt beträgt im Männerchor 44 Jahre und im Frauenchor 60.
Nachwuchssorgen quälen beide. Junge Leute interessieren sich eher für
gemischte Chöre.

Jutta Donat
[Jutta Donat, Jahrgang 1952,
Studium der Journalistik und
Literatur in Leipzig, freie Autorin,
Beiträge unter anderem für die
Leipziger Volkszeitung und die
Frankfurter Rundschau]



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